Struktur und Bedeutung des handwerksähnlichen Gewerbes in Deutschland

Müller, K. & Rudolph, A. (1998). Struktur und Bedeutung des handwerksähnlichen Gewerbes in Deutschland. Göttinger Handwerkswirtschaftliche Arbeitshefte (Heft 38). Göttingen.

Das handwerksähnliche Gewerbe fand lange Jahre keine größere Beachtung. Wenn in der öffentlichen Diskussion vom Handwerk die Rede war, wurde darunter lediglich das Vollhandwerk verstanden. Dies hat sich seit einigen Jahren geändert. Durch den starken Anstieg der Betriebszahlen im handwerksähnlichen Gewerbe, aber auch durch Klagen von Vollhandwerkern über unerlaubte Tätigkeitsüberschreitungen von handwerksähnlichen Betrieben, rückte das handwerksähnliche Gewerbe verstärkt in das öffentliche Interesse. Dabei litt die Diskussion über das handwerksähnliche Gewerbe bislang darunter, dass eine detaillierte Analyse über die Betriebe nicht durchgeführt werden konnte, was nicht zuletzt durch einen statistischen Datenmangel begründet war. Durch die 1996 erstmals durchgeführte Zählung im handwerksähnlichen Gewerbe ist dieses Problem stark reduziert worden.

Durch die Initiative des Ministeriums für Wirtschaft, Technologie und Europaangelegenheiten des Bundeslandes Sachsen-Anhalt wurde erstmals eine umfangreiche Untersuchung über die handwerksähnlichen Betriebe in diesem Bundesland möglich. Diese Untersuchung des Seminars für Handwerkswesen wurde um statistische Daten von anderen Bundesländern erweitert, um so ein Gesamtbild über das handwerksähnliche Gewerbe in Deutschland gewinnen zu können.

Im Einzelnen wurden folgende wichtige Ergebnisse ermittelt:

  1. In die Verzeichnisse der Inhaber handwerksähnlicher Gewerbe waren am 1. Januar 1998 knapp 160.000 Betriebe eingetragen. Davon entfielen 130.000 auf das frühere Bundesgebiet und knapp 30.000 auf die neuen Bundesländer.
  2. Der Betriebsbestand hat sich seit 1990 um fast 70 % erhöht, wobei der Anstieg in Ostdeutschland größer ausfiel als in Westdeutschland. Der Anteil des handwerksähnlichen Gewerbes am gesamten Handwerk hat sich in den letzten Jahren kontinuierlich erhöht und beträgt derzeit knapp 20 %.
  3. Der größte Gewerbezweig im handwerksähnlichen Gewerbe ist der Zweig "Einbau von genormten Baufertigteilen" vor dem Holz- und Bautenschutzgewerbe und den Kosmetikern.
  4. Konfliktpotentiale zwischen handwerksähnlichem Gewerbe und Vollhandwerk entstehen vor allem dort, wo das handwerksähnliche Gewerbe spezielle Teiltätigkeiten von Vollhandwerksberufen ausübt; aus der Sicht des Vollhandwerks ergeben sich allein durch den scharfen Wettbewerbsdruck von Seiten des handwerksähnlichen Gewerbes Konflikte, welche nicht selten durch eine bewusste Verletzung der Handwerksordnung hervorgerufen werden. Aus der Sicht des handwerksähnlichen Gewerbes liegen Konfliktpotentiale vor allem in dem Bereich der Interessenvertretung durch die Handwerksorganisationen. Handwerksähnliche Betriebe sehen sich zwar als vollwertige Beitragszahler, doch nicht als vollwertige Mitglieder der Handwerkskammer.
  5. Aufgrund fehlender institutioneller Hürden ist das handwerksähnliche Gewerbe im Gegensatz zum Vollhandwerk ein potentielles Einsatzfeld für Scheinselbständigkeit. Diesem Aspekt dürfte ein wichtiger Erklärungsgehalt zukommen, da das Scheinselbständigenpotential gerade in jenen handwerksähnlichen Gewerbezweigen hoch ist, die im Wesentlichen die expansive Entwicklung im handwerksähnlichen Gewerbe tragen. Insgesamt kann man von 25.000 bis 30.000 Scheinselbständigen im handwerksähnlichen Gewerbe ausgehen.
  6. Im Zuge der technologischen Entwicklung ist es zu einer stärkeren Einbindung des handwerksähnlichen Gewerbes in die Arbeitsteilung (Montage, Dienstleitungen, Outsourcing) gekommen. Insgesamt profitieren von dieser Entwicklung in besonderem Maße jene handwerksähnlichen Gewerbezweige, die 1994 neu in die Anlage B der Handwerksordnung aufgenommen wurden (z.B. Einbau von genormten Baufertigteilen).
  7. Für eine weitere expansive Entwicklung des handwerksähnlichen Gewerbes sprechen insbesondere folgende Faktoren: unausgeschöpftes Outsourcing-Potential im Bau- und Ausbaugewerbe, Aufnahme zusätzlicher Gewerbezweige, weitere Flucht in die Selbständigkeit. Diese Entwicklung könnte durch stärkere Maßnahmen gegen Scheinselbständigkeit gebremst werden.

Wagt man eine Vorhersage über die zukünftige Entwicklung von Vollhandwerk und handwerksähnlichem Gewerbe, könnten sich folgende Tendenzen abzeichnen: auf der einen Seite eine Annäherung der Betriebszahlen, auf der anderen Seite größere Unterschiede bei betrieblichen Strukturmerkmalen, wie bspw. Betriebsgröße oder Kapitalintensität.

Vielleicht bildet sich im Handwerk – und dies dürfte insbesondere für das Baugewerbe gelten – eine Arbeitsteilung heraus: hier die größeren Vollhandwerksbetriebe, die sich mit ihren qualifizierten Arbeitskräften auf hochwertige Tätigkeiten spezialisieren und dabei längerfristig am Markt agieren, dort die Kleinstunternehmen des handwerksähnlichen Gewerbes, die minder qualifizierte Arbeiten als Subunternehmer von Vollhandwerks- und Industriebetrieben übernehmen und sich nur kurz am Markt behaupten können.

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